Was macht ein Österreicher…

… wenn er unter der Zeit so ein bissl Hunger kriegt?

Auf nix Großes, schließlich steht ja sicher in absehbarer, aber im Moment zu entfernter Zeit das nächste „richtige“ Essen auf dem Plan. Es sollte also was Kleines sein, aber grad groß genug, um sich über diese Zeitspanne zu retten. Möglicherweise oder sehr wahrscheinlich befindet sich die eigene Vorratshaltung auch grad außerhalb einer unmittelbar überwindbaren Distanz, die das kleine Hungerproblem durch einen beherzten Griff in den Kühlschrank lösen könnte.

Man hat also Hunger, man ist unterwegs, führt üblicherweise weder Porzellan noch Besteck mit sich und braucht schnell was Gutes, Praktisches.

Zu diesem Zweck hat der Österreicher die Wurstsemmel (um ihre Deftigkeit zu unterstreichen, gerne liebevoll auch Wurschtsemmel genannt – überhaupt ist das Wort „Wurscht“ aus dem österreichischen Wortschatz nicht wegzudenken) erfunden. Vielleicht war’s auch jemand anderes als die Österreicher, in dem Fall tritt aber automatisch die Prämisse „Die Österreicher waren’s“ in Kraft (da gibt es andere Gelegenheiten, wo wir gerne auf diese Prämisse pfeifen).

Was braucht es also für so eine richtige Wurstsemmel?

Als erstes natürlich einmal eine Semmel. Übrigens, wenn man als (deutscher) Tourist in Österreich gerne so lange wie möglich unerkannt bleiben will, muss man sich dieses Wort ganz oben in’s Vokabelheft schreiben. Bei „Brötchen“ fliegt man sofort als Nicht-Österreicher auf, im besten Fall kriegt man sowas wie ein Sandwich hingestellt.

Eine Semmel also. Nachdem im klassischen Klischee über den typischen Österreicher aber das Wort „unkompliziert“ nicht vorkommt, ist es mit dem schlichten Wunsch nach einer Semmel noch nicht getan. „A lange oder a runde…?“ wird man oft von der Verkaufsperson hinter der Budel gefragt? Ja welche nun? Immer diese Entscheidungen… Wie beim „Twinni“ und den „Schwedenbomben“…

Ich könnte schwören, dass die runden Semmeln besser schmecken. Sie lächeln einen schon so freundlich an, erinnern mit ihren Wirbel-Flügerln irgendwie an die bunten, fröhlichen Plastik-Windradln unserer Kindheit. Die langen Semmeln sind durch ihre eingebaute Sollbruchstelle ideal zu teilen. Aber wer will das schon? Man kann auch Kleinkinder gut dran herumkauen lassen und die aufgeweichte Semmel anschließend als Dichtungsmasse im Brunnenbau verwenden.

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Die Semmel muss unbedingt frisch und knusprig sein. Nix ist schlimmer als eine „letscherte“ Semmel. Letschert ist in Österreich einer dieser Universalbegriffe, die fast immer passen. Lebensmittel können letschert sein, Personen, Vegetation, Geschmack. Und es ist schwer, diesen Begriff zu übersetzen. Bleiben wir bei den Semmeln, da bedeutet letschert einfach das Gegenteil von knusprig. Dank der Backöfen in den Supermärkten, die alle zwanzig Minuten frische Semmeln ausspucken, ist die gefürchtete Nachmittags-Letschertheit kaum mehr wo anzutreffen (also zumindest nicht bei Semmeln).

Man nehme also eine Semmel, die den o.g. Voraussetzungen entspricht und schneide sie einmal rund um den Äquator durch. Jetzt kommt die Wurst in’s Spiel. Und wer jetzt gedacht hat, die Wurscht wär‘ wurscht, täuscht sich gewaltig. Schinkenwurst, Jausenwurst, Polnische, Salami. Alles wurstsemmelmäßig zu vergessen. Die einzig wahre Wurst für eine Wurstsemmel ist die Extrawurst. Punkt.

Extrawurst ist eine österreichische Brühwurstsorte. Sie wird aus Rind- und Schweinefleisch unter Beigabe von Speck, Knoblauch und Gewürzen hergestellt. Die Wurstsorte gibt es mindestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts und wurde in der Rezeptur fortwährend verändert. Sowohl historisch als auch regional gibt es Unterschiede in dem Verhältnis der Zutaten, der Beschaffenheit, der Würzung und der Zubereitung. (behauptet Wikipedia)

Gut 40-50 Gramm, feinblättrig aufgeschnitten gehören in eine Semmel. Alles darunter ist knausrig, alles darüber ist übertrieben, es heißt ja Wurstsemmel, nicht Semmelwurst. Und dann wär da noch das optionale Gurkerl. Für das ultimative Geschmackserlebnis und Mundgefühl müssen ein paar Scheiben von einem großen Essiggurkerl unbedingt in’s Semmerl.

Der entscheidende geschmacksgebende Moment ist jedoch der, wenn die Verkäuferin die fertig gerichtete Semmel in ein Blatt Wurstpapier einschlägt und gar noch in ein Papiersackerl steckt. Da verändern sich wohl irgendwelche Moleküle oder Eiweißverbindungen oder sonst ein Zusammenhang zwischen Semmel, Wurst und Gurkerl, der eine Wurstsemmel erst zu dem Hochgenuss machen, der sie bei richtiger Zubereitung und artgerechtem Verzehr ist. In diesem Zustand kann das Semmerl auch noch ein kurzes Weilchen, aber nicht zu lang (!), sonst tritt die gefürchtete Letschertheit ein. Zum Vergleich mit einem Supermarkt/Fleischhauer-Semmerl könnte man frische Semmeln kaufen, die adäquate Menge Extrawurst und ein Glas Gurken und sich die ganze G’schicht‘ auch daheim zusammenrichten. Zu allem Übel wird die arme Semmel vielleicht noch erbarmungslos auf einen Teller gesetzt?????!!!!!! Kein Vergleich. Und außerdem ein regelrechtes Sakrileg. Daheim, gar auf einem Teller, zusammenrichten kann man ein Käsebrot, oder zum Frühstück eine Marmeladesemmel.

Um Gottes willen…. nein, der Moment des Wurstsemmelverzehrs gehört zelebriert: als erstes gehört das Papiersackerl in der Manier aufgerissen, wie dreijährige Kinder das Weihnachtspackerl, wenn keine Oma in der Nähe ist, die unbedingt „das gute Papier noch aufheben“ will. RATSCH!!! Einmal quer durch. Explosionsartig breitet sich ein Wohlgeruch aus, eine Mischung aus Papier und paradiesischem Wurstsemmelaroma, das bereits zart durch das Pergamentpapier nach außen dringt. Nun kommt die zweite Schicht, das Pergament. Das öffnet man so, wie man ein Päckchen öffnet, in dem man ein ganz wertvolles Schmuckstück oder etwas sehr Zerbrechliches vermutet. Bei dieser Schicht wird nicht ge-RATSCH-t, sondern vorsichtig freigelegt. Jetzt ist die ganze Umgebung erfüllt von wunderbarstem Wurstsemmelduft, vor einem liegt das Wunderding, lächelt einen fröhlich an und ruft „Iss‘ mich!“

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Wer bis jetzt alle Regeln befolgt hat, wird nun belohnt: mit einem herzhaften Biss durch knusprige Semmelkruste, weiches Semmel-Innenleben, knackiges Gurkerl, schmelzend-weiche Extrawurst und wieder zurück durch die Semmel – so lange, bis alles bis auf den letzten Brösel verputzt ist. Und wer an diesem Punkt angelangt ist, weiß, dass teilbare lange Semmeln die unsinnigste Erfindung seit der Erfindung der Gelsen sind. Naja, fast.